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24.09.22
WELCOME
STRANGER
Mit Werken von Flurina Badel & Jérémie Sarbach, Gilles Furtwängler, Dorota Gawęda & Eglė Kulbokaitė, Birke Gorm, Christoph Hefti, Raphael Stucky und Ilaria Vinci.




In der Ausstellung WELCOME STRANGER wird Lemme als Haus bzw. Wohngebäude verstanden. Es werden Werke von sieben Schweizer und internationalen Kunstschaffenden gezeigt, welche Aspekte der Häuslichkeit zwischen intimer Sphäre und Öffentlichkeit aufgreifen. Dabei spielt zum einen die Verortung dieses «Hauses» als Vitrine im öffentlichen Raum eine Rolle, zum anderen seine geografische Lage im Rhonetal, ein alpin geprägtes Gebiet zwischen Ländlichkeit und Urbanität. WELCOME STRANGER zeigt Grenzgängerinnen, welche mit Konnotationen des Vernakulären und Folkloristischen, von Kunst und Dekoration, des Ländlichen und Urbanen, von Zugehörigkeit und Fremdheit spielen. Sie sind Crossovers, die sich gegen eindeutige Zuweisungen sträuben und die Komplexität von Räumen und Identitäten bekräftigen.
In sechs Sprachen werden die Besucher:innen von Lemme durch eine Tafel Willkommen geheissen, welche an der Aussenmauer des Betonkubus angebracht ist. Hier und dort hat sich ein Fehler ins Schriftbild eingeschlichen, kleine Nachlässigkeiten beim Auftragen der Buchstaben in Airbrush-Technik durch die Künstlerin Ilaria Vinci. Das mittelalterlich anmutende Willkommensschild weist mit den sich zuprostenden Knochenhänden auf der Rückseite auf ein Gasthaus hin, könnte aber auch als dekoratives Element am Haus eines Mittelalterfans zu finden sein. Es verweist einerseits auf eine andere, vormoderne Zeit, und auf einen anderen Ort, die andere Seite des Lebens, schliesslich prosten sich hier Untote zu (der Titel des Werks: A strange moment of self evaluation… We have met before, on another star, 2020). Andererseits ist es durch seine Vielsprachigkeit im globalisierten Heute verankert, in Zeiten grösster Mobilität, wo Menschen von überall in Sion auftauchen und in ihrer Sprache begrüsst werden. Vinci reflektiert durch das Aufnehmen von Ästhetiken imaginierter Welten (Mittelalter, Science Fiction etc.) die dahinter liegenden Mechanismen von Weltflucht.
Christoph Heftis Teppich Swiss Mask (2019) ist von archaischen Schweizer Fasnachtsmasken inspiriert, die lokalen Traditionen entspringen. Sein Design einer prototypischen Schweizer Maske tritt einen globalen Fertigungs- und Verwertungsprozess an: Die Teppiche werden in Nepal handgeknüpft und über eine Brüsseler Galerie an internationale Sammler:innen und Liebhaber:innen verkauft. Vorstellungen des urchigen Schweizer Völkchens dürften beim Einrichten ihrer Ferienwohnungen eine Rolle spielen; den Designtrends Alpenchic oder Cottagecore entspricht Swiss Mask allerdings nicht.





In ihrer Serie huswif (2021) verdichtet Birke Gorm gefundene Materialien wie Jute, Schnur, Gräser, Nägel und Metallstücke zu Wandarbeiten und spielt mit idealisierenden Vorstellungen von Rustikalität. Die Objekte schliessen ästhetisch an die Tradition der Arte Povera an, haben aber eine dezidiert feministische Stossrichtung. Sie erinnern an selbstgemachte, dekorative Objekte, welche als Willkommensgruss an der Türschwelle angebracht werden. Meist von Frauen hergestellt, sind sie als Hommage an weibliche Care-Arbeit im weiteren Sinne zu lesen.
Auch Flipflop (De Novo) (2018) von Flurina Badel & Jérémie Sarbach steht an der Schwelle von privatem und öffentlichem Raum. Die vier hybriden Objekte, gleichzeitig Sandalen und verdoppelte Füsse, überwinden Grenzen zwischen Innen und Aussen, Körper und Gegenstand, privat und öffentlich spielend. Die Zehenstegsandalen wandern durch Zeit und Raum, es gibt sie seit Tausenden Jahren, sie sind der transkulturelle Schuh par excellence.





Gilles Furtwänglers coussins-drapeaux (Fahnenkissen) verweben das Kissen als körperbetontes Objekt mit häuslichem Charakter mit der öffentlichkeitswirksamen Geste einer Fahne. Auf die eine Seite des hier ausgestellten Fahnenkissens (2014) malte Furtwängler den Begriff Chacal (Schakal), auf die andere Seite das Wort Esprit (Geist). Sie sind gemeinsam als Esprit de Chacal oder Chacal de l’Esprit zu lesen. Es ist ein Fahnenkissen, das zu Schlauheit und List aufruft, gewissermassen als ein Modus der Existenz und des Begreifens unserer Welt, ausserhalb der Normen, abseits ausgetretener Pfade.
Die Skulptur Ghost Feeder (I) (2021) von Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė befindet sich in vielerlei Hinsicht ebenfalls an einer Schwelle. Sie weist die Form der traditionellen Stogastulpiai auf: geschnitzte Holzstrukturen, die an Kreuzungen in Litauen aufgestellt werden. Anders als traditionelle Stogastulpiai präsentiert sich die Skulptur in einer hochglänzenden Ästhetik, die an Immobilienprojekte erinnert. In vorchristlicher Zeit dienten solche Häuschen als «Geisterstationen» für Ahnen und wandernde Seelen, für die wöchentlich Essen als Opfergabe bereitgestellt wurde. Nach der Christianisierung wurden sie zu Votivschreinen umfunktioniert, mit Kreuzen geschmückt und christlichen Figuren bestückt.
Das Werk Tell a Bee (2020) von Raphael Stucky schliesst über das Motiv (Blumen) und das Material (Keramik) an Themen der Häuslichkeit, Dekoration und des Kunsthandwerks an. Durch die Transformation der farbigen Blumen ins Schwarze erinnern sie an Grabbeigaben und damit an eine öffentliche Zeremonie und an gemeinschaftliche Beziehungen innerhalb eines Trauerrituals. Blumen dienten einst als Markierung eines bürgerlichen Lebensstils und luxuriöse Bouquets in Häusern und Hotels sprechen auch heute noch Bände. Gleichzeitig gibt es heute einen breiteren Trend zum Blumenbinden in natürlichem Gestus, womit an Fiktionen idyllischer Ländlichkeit angeschlossen wird.
Josiane Imhasly
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