LEMME
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29.01

09.04.22

Ilona

Ruegg

Liminal

«I guess if in the very far future, the sun burns the world down to a biscuit, we will still be there as particles. Yes?» Ilona Ruegg

Eclipse (links), Border Games (Mitte) und and repetition, 2013
and repetition, 2013, Doppelschwelle, abgeformt an Quinten Cross, 2013, Aluminium massiv, poliert, Gravur
100 × 27 × 3 cm, Winkel 10°
Made in China, Missing One, Worker Unknown, 2013, Ensemble von 3 gebrauchten Displaytischen (einer fehlend), MDF, Lackierung erneuert, Etikette (Reproduktion), Champagnerkreide, 38 × 58 × 28 cm
Made in China, Missing One, Worker Unknown, 2013, Detail

Liminalität bezeichnet einen Schwellenzustand, beschreibt den Übergang von einem Raum in einen anderen. In dieser Zone der Transition herrscht Desorientierung, Mehrdeutigkeit, die bis anhin geltende Ordnung wird über den Haufen geworfen – alles scheint möglich, Freiheit regiert. Gleichzeitig kann dieser Schwellenzustand auch Unsicherheit und Angst auslösen. Der Begriff wurde um 1900 in der Anthropologie1 geprägt und beschreibt hier den «mittleren Raum» von Übergangsriten, beispielsweise zwischen Kindheit und Erwachsensein. Liminalität kann sich auf verschiedene Subjekte und deren Transformationsprozesse beziehen: Individuen, soziale Gruppen, Gesellschaften und ganze Zivilisationen. Gleichermassen manifestiert sie sich in Objekten, Räumen und Orten. So erstaunt es nicht, dass der Begriff in Psychologie und Psychoanalyse, Philosophie, postkolonialer Theorie und poststrukturalistischen Ansätzen, u. a. Gender und Queer Studies fruchtbar gemacht wird. Besonders die Literatur- und Filmtheorie beschäftigt sich mit liminalen Räumen: Wer Geschichten erzählt, interessiert sich nicht selten genau dafür. Sie ziehen uns an, sie stossen uns ab. Sind es auch diese Räume der Anziehung und Abstossung, der aufregendsten Mehrdeutigkeit und schaudervollen Unsicherheit, die Ilona Ruegg faszinieren? In welche sie ihre Kunst als Erzählung einbringt, oder welche sie erst schafft?

Das Wort liminal stammt vom lateinischen līmen ab, was (Tür-)Schwelle bedeutet und einen unmittelbaren Bezug zu Ilona Rueggs Werk and repetition (2013) schafft. and repetition ist eine Türschwelle, genauer gesagt deren zwei, eine Doppelschwelle, wie Ruegg es nennt. Sie ist ein Passstück des Werks Quinten Cross (2013) und in poliertem Aluminium materialisiert. Quinten Cross besteht aus zwei Türrahmen, aus zwei Durchgängen, die sich durchkreuzen. Die Doppelform der Schwelle, in einem Winkel von zehn Grad zueinanderstehend, kommt von dieser Durchkreuzung. Türrahmen und -schwellen markieren als architektonische Elemente Räume der Liminalität. Dies zeigt sich nicht zuletzt in Ritualen an der Türschwelle aus dem Brauchtum und (Aber-)Glauben. Um etwa das Böse nach aussen zu bannen, werden sie mit Symbolen markiert oder besonders hohe Schwellen gebaut. Bräute werden über Türschwellen getragen – ob damit nur der Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt symbolisiert wird oder die Braut zudem vor dem Bösen geschützt werden soll, ist unklar. Rueggs and repetition verdoppelt und spiegelt den liminalen Raum, wiederholt ihn.

Das lateinische Wort līmen bedeutet auch: Wohnung, Haus; Schranken; Anfang; Grenze. Hier lassen sich weitere vielfältige Verbindungen zu Werken von Ilona Ruegg herstellen, auch zu den im Lemme ausgestellten Drop Outs, zu denen and repetition zählt. Die Drop Outs entstanden nach einer langen Phase des ausschliesslich konzeptuellen Arbeitens zwischen 1997 und 2012. In diesen prozessorientierten Realisierungen, welche auf räumliche Situationen reagieren und welche Ruegg in Zusammenarbeit mit Personen und Unternehmen – oft aus der Industrie – entwickelte, ging es stets um Verschiebungen. Verschiebungen von etwas Gegebenem, durch subtile Eingriffe in die Räume, die angetroffenen Situationen und Objekte. Dabei haken sich die Werke Rueggs dort in unser Wahrnehmungssystem ein, wo wir alles zu kennen glauben, und Vertrautheit unseren Sinneseindruck steuert. Durch subtile Veränderungen führt die Künstlerin die Wahrnehmenden in den Raum der Imagination, des Unsichtbaren und des Abwesenden. Diese ortsspezifischen Werke lösen sich mit dem Ende einer Ausstellung zwar auf. Die Künstlerin ist jedoch von der Vorstellung fasziniert, dass sie als Elementarteilchen dennoch weiter existieren, wie in einem Gespräch zwischen ihr und dem Teilchenphysiker James Beachem deutlich wird.2 Nach dieser Phase des prozessorientierten Arbeitens markierten die Drop Outs 2013 eine Phase des Schaffens am und mit dem autonomen Objekt, ähnlich wie in den Jahren vor 1994, als Ruegg sich als Malerin und Zeichnerin etablierte. Diese Objekte nähren sich von denselben Verschiebungen wie die prozessorientierten Projekte. Es sind Objekte, die uns aus dem Alltag bekannt sind, durch raum-zeitliche Kontextverschiebungen und minimale Änderungen jedoch mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden.

Ein Drop Out besteht aus drei Fenstergittern und trägt den Titel Border Games (2013). Üblicherweise markieren Fenstergitter eine Grenze – eine weitere Bedeutung von līmen – zwischen Innen und Aussen. Sie beschützen Eigentum und dekorieren gleichermassen das Haus. Ruegg fand die schmiedeeisernen Fenstergitter an einer Bauteilbörse – «ein ganz wunderbarer Ort!», wie sie sagt – und verkupferte sie anschliessend galvanisch. Die Verkupferung hat den Effekt, dass die Fenstergitter seltsam entrückt und entmaterialisiert wirken – eine der Spiegelung der Türschwelle nicht unähnliche Geste. Kupfer zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, kleine Fehlstellen zu überbrücken und wird üblicherweise als Basis für weitere metallische Beschichtungen gelegt. Bei Border Games bildet die Kupferschicht die Oberfläche und überbrückt Fehlstellen in diesem Schwellenraum. Das Werk entfaltet im Lemme eine komplett andere Wirkung als in einem gewöhnlich dimensionierten Ausstellungsraum. Einerseits wird die Verschiebung der Fenstergitter von aussen nach innen, auf die «andere Seite», betont. Andererseits kann Border Games nur fragmentiert durch sechs kleine Fenster visuell erfasst werden und nie in seiner Gesamtheit, wodurch sich die einzelnen Gitterstäbe zu öffnen scheinen.

Made in China, Missing One, Worker Unknown (2013) spielt seinerseits mit Präsenz und Absenz. Das Werk besteht aus zwei Displaytischchen und einem Etikett, das Auskunft über deren Produktion gibt. Die beiden Tischchen sind – ähnlich wie die Türrahmen von Quinten Cross – ineinandergeschoben, wodurch eine Scharnierstelle zu entstehen scheint. Sie gehören zu einem Set von Dreien, wie auf dem Etikett zu lesen ist. Ein Tischchen fehlt, und genau dieses Fehlende zog Rueggs Aufmerksamkeit auf sich. Es deutete zur unbekannten Person in China, welche die Produktion der Kuben begleitete. Ein Raum spannt sich auf, zwischen den zwei hier vorhandenen Tischchen, dem Fehlenden, das irgendwo noch existiert, zumindest als Millionen Elementarteilchen und dem oder der Arbeiter:in.

Die Arbeit Eclipse (2013) spannt abermals einen zeitlichen Bogen zu einem frühen konzeptuellen Werk Rueggs mit dem Titel Licht in Wand (1997). Dieses besteht aus der kleinen Glühbirne einer Taschenlampe, betrieben von einer Langzeitbatterie. Ruegg baute die Glühbirne komplett in eine Wand ein, sie guckte nur durch ein ausgebohrtes Loch in der Wand hervor. Dazu deklarierte die Künstlerin: Dies ist ein Kunstwerk in der Dauer, in der das Lämpchen glüht und ebenso in der Dauer, in der es nicht mehr glühen wird. Eclipse, in der Form einer übergrossen Glühbirne, spendet kein Licht. Das Werk trägt die Präsenz und die Abwesenheit des Lichts gleichermassen in sich und verweist durch sein schwarzes Glas und die Finsternis, die es im Titel trägt, auf eine viel stärkere Lichtquelle: die Sonne. Diese wiederum wirft den Schatten von Eclipse auf die Betonwand.

Alle vier im Lemme gezeigten Drop Outs haben einen Bezug zu Architektur, zu Bauteilen, zu Designobjekten, zu industrieller Produktion. Sie möblieren Lemme, dessen Innenleben nur visuell erkundet werden kann und dessen Räumlichkeit deshalb seltsam entrückt bleibt. Wir sind nicht mit den Objekten im Raum, sondern blicken durch die Fenster auf sie, wie sie im Raum sind. Lemme erlaubt durch seine zahlreichen, unterschiedlich dimensionierten Fenster ungewohnte Ansichten auf die Werke von Ruegg und transformiert, verschiebt diese damit.

Lemme ist selbst liminal. Es bildet zwar eine in sich geschlossene Struktur, eine Grenze, die auf den ersten Blick hermetisch scheint. Doch ist Lemme nur schon dadurch mehrdimensional, als es gleichzeitig ein Ausstellungsraum und eine Skulptur des Künstlers Pierre Vadi ist. Die Dimensionen, die schrägen Winkel und verwinkelten Räume dieser Ausstellungsarchitektur evozieren Mehrdeutigkeit und Desorientierung. Lemme wird in den kommenden zwei Jahren im Rahmen des Programms 360° Lemme denn auch in diesem Sinne erkundet: als Raum des Übergangs. Und vielleicht ist es auch ein Raum, der einen Schwellenzustand ermöglichen und Transformation auslösen kann.

Josiane Imhasly

1 Von Arnold van Gennep mit seiner Publikation Rites de passage (1909). Er bezog sich auf zahlreiche Übergänge zwischen Lebensstadien oder sozialen Zuständen, welche Individuen in ihrem Leben zu bewältigen haben und durch ein Ritual begleitet werden. Victor Turner nahm den Begriff 1967 in seinem Essay Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites of Passage wieder auf und erweiterte ihn.
2 Vgl. James Beachem, Ilona Ruegg and James Beachem, in: Bomb Magazine, Issue 158 / Winter 2022, S. 26-36.

Eclipse, 2013, mundgeblasenes Schwarzglas, Stahlplatte, Magnet, Ø 18 cm, 35 cm
Border Games, 2013/2015/2022, Detail, 3 schmiedeeiserne Fenstergitter, galvanisch verkupfert, je 100 × 118 × 20 cm