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17.06 2023


Florence

Jung

Jung90

Diese Annonce verteilte Florence Jung Anfang März in Sitten. Eine der Personen, die ihr darauf antwortete, – eine müde, freischaffende Person –, wird während der Ausstellungsdauer dafür bezahlt, täglich eine Stunde länger zu schlafen als gewöhnlich. Im Ausstellungsraum klingelt zur vereinbarten Zeit jeden Morgen ein Wecker. 

Die Künstlerin lebt und arbeitet in Paris und Biel. Florence Jungs Werke sind regelmässig in Einzel- und Gruppenausstellung in der Schweiz und im Ausland zu erleben. Ihre jüngsten Arbeiten sind ein literarisches Experiment mit dem Titel Sam, das auf dem Smartphone erlebt werden kann (Download App Store | Google Play) sowie das Langzeitprojekt New Office, das sie 2022 unter anderem an den Swiss Design Awards, bei unanimous consent in Zürich, in der New Galerie, Paris und im Helmhaus Zürich ausstellte.

18.06 2023 14:00

Lesung (in Französisch)

Auf Einladung von Florence Jung liest Mélanie Lamon Bertrand Russells L’éloge de l’oisiveté (Lob des Müssiggangs) im Park von les Arsenaux bei Lemme.

«Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, dass alle Menschen behaglich und sicher leben können; wir haben es stattdessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und die andern verhungern; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?»

– Bertrand Russell, englischer Logiker und Philosoph des 20. Jahrhunderts.

22.07 2023 14:00

Vernissage Walking with the Rhone mit Willimann/Arai Performance Vacances au Vert von Fi’Ni Studio

Im Projekt Walking with the Rhone des Künstlerinnen-Duos Willimann/Arai (Nina Willimann & Mayumi Arai) ist der Ausstellungsraum Lemme gleichzeitig Basisstation einer Wanderung und visuelles Archiv. Willimann/Arai wandern den Pilgerweg entlang von Sitten bis zum Rhonegletscher und kartieren die Rhone und mit ihr verbundene Erzählungen. Sie sind eingeladen, die beiden tageweise zu begleiten und Erlebnisse, Erinnerungen und Geschichten über den Rotten mit ihnen zu teilen (auch beim Apéro). In Lemme sind historische Darstellungen zu sehen, welche den Fluss und den Rhonegletscher zum Thema haben und den visuellen Referenzrahmen der Recherche von Willimann/Arai aufspannen. 

Daten und Wanderroute: 

Sa, 22.7. – 14 Uhr Sion Basisstations-Apéro mit Willimann/Arai, Vernissage der Ausstellung in Lemme und Performance Vacances au vert von Fi’Ni Studio
So, 23.7. – 1. Etappe Sion – St. Léonard       
Mo, 24.7. – 2. Etappe St. Léonard – Salgesch
Di, 25.7. – 3. Etappe Salgesch – Gampel
Mi, 26.7. – 4. Etappe Gampel – Brig
Do, 27.7. – 5. Etappe Brig – Ernen
Fr, 28.7., 16.30 Uhr Ernen: Pilger-Apéro in Ernen, Gespräch mit den Künstlerinnen und Pfarrer Vitus Nwosu, im Rahmen des Projekts Zur frohen Aussicht, www.zurfrohenaussicht.org 
Sa, 29.7. – 6. Etapp Ernen – Münster
So, 30.7. – 7. Etappe Münster – Oberwald (Hotel Rhonequelle)
Mo, 31.7. – 8. Etappe Oberwald – Rhonegletscher

Die Wanderung ist öffentlich, Sie sind eingeladen, etappenweise daran teilzunehmen und ihre Geschichten über die Rhone mit den Künstlerinnen zu teilen. Mit Anmeldung bis jeweils am Vortag um 16 Uhr unter willimannarai@gmail.com. Weitere Informationen zu Treffpunkten und Wanderzeiten zu gegebener Zeit auf der Website.  

Das Projekt ist eine Kollaboration zwischen Lemme und Zur frohen Aussicht, Ernen (www.zurfrohenaussicht.org).

Nächste Ausstellungen

Florence Jung: Jung90

Josiane Imhasly

Zwischen dem 16. November 2021 und dem 3. Januar 2022 erhielt ich zehn SMS von einer unbekannten Nummer. 

Die erste ging so:  

Gerade hat eine Person, die im Zug Zürich-Bern im zweit vordersten Waggon sitzt, gesimst: Wer ist das?

Als ich diese Nachricht erhielt, sass ich im Zug, zwar nicht Zürich-Bern, aber trotzdem fühlte ich mich betroffen, ja getroffen, ich hatte den Eindruck, die Nachricht hat unmittelbar mit mir, mit meiner aktuellen Situation im Zug zu tun. Wer ist das, wer bin ich? Verunsicherung. 

Eine der folgenden Nachrichten lautete:

Die letzte Suchanfrage im Browserverlauf eines Computers der Nationalbibliothek lautet: Ist es schlimmer, eine Sache oder eine Idee sein zu wollen?

Wer hat diese Frage wohl in den Computer eingetippt? Vielleicht die Person aus dem zweit vordersten Waggon?

Und die letzte Nachricht:

Gerade, als du dich fragst, wer das ist, wird es Nacht, und mit ihr kommt die Furcht, dass diejenigen, die dich beobachten, so bald nicht aufhören werden.

Und ich sitze in meiner Stube ohne Vorhänge, und fühle mich plötzlich etwas ausgestellt. 


Schnell stellte ich einen Zusammenhang zwischen den Nachrichten und einer Ausstellung von Florence Jung her, die ich im März 2020 im Helmhaus Zürich besucht hatte. Dies tat jedoch deren Wirkung keinen Abbruch. Und Kausalitäten herzustellen oder diese viel mehr zu verunsichern, gehört zum Geschäft von Florence Jung. Ganz freigiebig hatte ich meine Telefonnummer damals hinterlassen, ohne mir etwas dabei zu denken. Dass Florence Jung dies ausnutzen würde, mein Smartphone mehr als ein halbes Jahr später infiltriert und damit zunächst ein Gefühl der Verunsicherung auslöst, das alsbald in eine Reflexion über den Datenkapitalismus umschlägt, ist typisch für ihr Schaffen. 


Zweifel, Mysterien und Verunsicherung gehören zu den Situationen, die Florence Jung kreiert. Sie nennt sie «Szenarien» und nummeriert diese fortlaufend (das Projekt in Sitten ist das 90. Szenario). Diese Szenarien entstehen oft auf Einladungen von Kunstinstitutionen hin, verlassen aber das institutionelle Feld zuverlässig. Florence Jungs Arbeiten klammern das Objekt und die physische Präsenz der Künstlerin bewusst aus. Sie kreiert genau durchdachte Situationen im realen Leben und schaut dann, was passiert. Damit gibt sie bis zu einem gewissen Grad die Produktion ihrer Werke, vor allem aber die Rezeption aus der Hand. Das führt dazu, dass oft nicht klar ist, was zum Szenario gehört und was nicht. Ihre Arbeiten und auch sie als Künstlerin sind wie von einem mysteriösen Nebel umfangen. Spekulation, fragmentierte Informationen und vielfältige Interpretationen sind Teil ihrer Werke.


Am 9. Juni 2022 besuchte ich die Vernissage von Florence Jungs Ausstellung New Office im Offspace unanimous consent. Der Ausstellungsraum befindet sich in einem Bürogebäude in Zürich-Oerlikon, ein idealer Gastgeber für ein Projekt der fiktiven Firma Jungs, die neue Arbeits(markt)modelle zu propagieren scheint. Beim Eintreten in den Ausstellungsraum –oder das Büro – öffnete sich eine Szene der Verwüstung vor mir: Es hatte offenbar ein Business Apéro stattgefunden, der aus dem Ruder gelaufen war: Scherben von Weingläsern, Resten von Schinkengipfeli und Chips waren am Boden zerstreut; zerstörte Stehtische und Trennwände zeugten von einem Gewaltausbruch. Durch das Gespräch mit der Kuratorin der Ausstellung und das «Szenario», das sie mir aushändigte, liess sich die Situation zumindest teilweise aufschlüsseln. Florence Jung war in einem Mailaustausch mit einigen Personen gestanden. Der Kontakt entstand durch Inserate – ein Medium, das sie gerne nutzt, auch in Sitten. Nachdem sie auf fünf Nachrichten geantwortet hatten, waren diese Personen (ob sie wollten oder nicht) Teil einer Lerngruppe. Dann geschah zunächst: Nichts. Nach mehreren Monaten oder gar Jahren erhielten sie wieder eine Nachricht und wurden angewiesen, am 7. Juni um 19 Uhr in den (Ausstellungs-)Raum zu kommen. Um 19.15 Uhr wurde ein letztes Mail an die Lerngruppe verschickt:


The chosen moment has passed. 
The study group is dissolved. 
The assets are destroyed.
The witnesses are gone. 
New Office is over and worthless. 


Schon die bereits erwähnte Ausstellung im Helmhaus war Teil des Langzeitprojekts New Office; mit dem Zerstörungsakt bei unanimous consent scheint dieses definitiv begraben zu sein. Durch die kryptischen letzten Sätze fragt man sich, ob New Office illegale Machenschaften verfolgt hat, nur eine Scheinfirma war, von einem grossen Investor aufgekauft und zerstückelt wurde, welche Rolle die Lerngruppe in den 15 Minuten der Zerstörung gespielt hatte und wer sonst noch an diesem Business Apéro war. Vielleicht beziehen sich die Sätze aber auch auf das Kunstprojekt selbst; denn Jungs Praxis entzieht sich den Logiken der Kunstwelt und des Kunstmarkts komplett, die Selbstzerstörung ist ihren Werken inhärent. Dazu passt, dass das an den Swiss Design Awards ausgestellte Archiv von New Office ebenfalls zerstückelt wurde: Das Publikum hat die Dokumente Stück für Stück abgetragen und mit nach Hause genommen. Ein Szenario, das aus dem Ruder gelaufen ist. 


Für Jung90 verteilte Florence Jung im März eine Annonce in Sitten: 


Si tu travailles et que tu es fatigué·e, écris à jungninety@gmail.com


Wer auf die Annonce antwortete, wurde über das Kunstprojekt informiert und dass jemand gesucht wird, der/die als Freelancer:in arbeitet und eine Stunde länger schlafen möchte. Das Produktionsbudget für die Ausstellung in Lemme wird dafür eingesetzt, der ausgewählten Person während 55 Tagen (der Dauer der Ausstellung) diese Stunde zusätzlichen Schlaf zu finanzieren – berechnet auf ihrem tatsächlichen Stundenlohn, der CHF 25 entsprechen muss. Im Ausstellungsraum klingelt jeden Tag um 7.30 Uhr ein Wecker – eine Stunde später als die Person normalerweise aufsteht.


Ist es nicht unverschämt, Schlaf zu monetarisieren, und genauso unverschämt, das Budget eines Kunstprojekts fürs Schlafen auszugeben? Immerhin wird das Projekt durch Steuergelder finanziert und sollte der Allgemeinheit zugutekommen und nicht dem Wohl einer einzelnen Person. Jung lenkt die (oft sehr limitierten) Ressourcen in der Kunst um und nimmt damit Fragen, die sich innerhalb der Kunst und Kreativwirtschaft, aber auch gesamtgesellschaftlich stellen, in den Blick. Wie viel ist Arbeit wert? Wer bestimmt das? Wie viel Wert messen wir Schlaf bei? Was ist Leistung und wie soll diese kompensiert werden? Wer arbeitet? Und wer ist müde (davon)?


Mich erinnert Jungs Methode an Seed Balls von Guerrilla Gärtner:innen. Nicht nur, weil sie mit ihren Aktionen subtil in alltägliche Räume und Praktiken eingreift, einen Samen aussät und beobachtet, ob und wie die Pflanze sich entfaltet. Sondern auch, weil ihre Praxis durch und durch widerständig ist. Sie legt neoliberale und kapitalistische Logiken offen, die unsere Gesellschaft durchdringen; bis in die vermeintliche Intimsphäre unserer digitalen Kommunikation hinein, bis in die vermeintliche Intimsphäre unseres Schlafes. 


Jung verlässt sich darauf, dass ihre Samen zu Geschichten und Reflexionen führen. Erst dann realisieren sich die Werke vollständig. Wir werden in ihre Kunstprojekte hineingezogen, ohne dass wir wissen, worum es eigentlich genau geht, und Jung erwischt uns genau dort, wo wir unserer Neugier nicht widerstehen können.